Improvisation im Tango – Freiheit auf dünnem Eis

Zwei Tänzer*innen treten ins Abrazo. Voller Vorfreude auf die kommenden gemeinsamen Tänze. Bereit zu improvisieren.
Die Musik beginnt. Einer schmeißt die Nerven weg. Und plötzlich… sind sie wieder mal fast auf Autopilot, beim Wiedergeben von altbekannten Sequenzen, gut einstudierten Bewegungen und Reaktionen.

Willkommen im Paradox der Wahlfreiheit.
Alle sagen, sie wollen Freiheit. Doch wenn sie da ist, wird’s oft still im Kopf – oder hektisch. Das Gehirn klammert sich lieber an Bekanntes. Sicherheit fühlt sich angenehmer an als das Schweben im Ungewissen. Improvisation verlangt Entscheidungen in Echtzeit – mit einem anderen Menschen – zur Musik – für den Follower beim Rückwärtsgehen – in High Heels. Kein Wunder, dass viele lieber im sicheren Sandkasten spielen als auf der unendlichen Spielwiese.

Lucia und Ana in enger Tanzhaltung
Lucia und Ana in enger Tanzhaltung

Improvisation ist kein Talent – sie ist ein Handwerk

In unseren Kursen üben wir oft kleine Sequenzen. Sie sind hilfreich – wie Vokabelkarten beim Sprachenlernen. Aber wirklich lebendig wird der Tanz erst, wenn wir nicht abspulen, sondern antworten. Wenn wir tanzen, was jetzt gerade passt – und nicht, was „auch schön wäre“.

Man erkennt es sofort: Tänzer*innen, die voll im Moment sind und tanzen, tragen oft ein Lächeln im Gesicht. Manchmal sogar bei kleinen Pannen, die sie charmant ausbügeln. Die anderen wirken eher wie bei einer Matheprüfung. Improvisation bedeutet nicht, dass man „einfach macht, was man will“. Es bedeutet, dass man zuhört – mit dem Körper, mit dem ganzen Sein – und dann reagiert.

Die Kunst der Wahl entsteht aus Wiederholung

Wirkliche Freiheit im Tango entsteht nicht durch das Merken vieler Figuren – sondern durch das Verstehen von Bewegung.

Wir arbeiten an der Achse, an der Klarheit im Gewichtwechsel, am Gleichgewicht in Drehungen, an der Bewegung durch die Musik. Das sind unsere Vokale, unsere Bausteine. Keine „Moves“, sondern Silben, aus denen alles entstehen kann.

In meinem Unterricht sehe ich das harmonische Zusammenspiel der drei folgenden körperlichen Achsen im Individuum als Grundvoraussetzung für Improvisation:

  • Die Standbeinachse, die Stabilität gibt.
  • Die Seite des freien Beines
  • Die senkrechte Wirbelsäule, die Aufrichtung und Freiheit schafft.
  • Diese drei arbeiten zusammen, wie Instrumente in einem Orchester – immer neu, immer im Jetzt. Und auf dieser Grundlage wird Improvisation möglich.

Freude am Improvisieren beim Tango
Freude am Improvisieren beim Tango

Improvisation beginnt beim Fragen

Was wäre, wenn Du eine bekannte Sequenz mitten im Ablauf betrittst? Was, wenn Du sie rückwärts tanzt? Wenn Du sie verlangsamst – bis zur Zeitlupe – und dann plötzlich beschleunigst?

Wie wäre es, wenn Du nur von einem Schritt bis zum nächsten planst? Wäre es nicht toll, Deine eigenen Sequenzen zu kreieren, on the Spot - immer im körperlichen Dialog mit Deinem Gegenüber?

Improvisation bedeutet, mit Möglichkeiten zu spielen. Sie neu zu kombinieren. Nicht zu überleben – sondern zu gestalten.

Fazit: Freiheit ist kein Geschenk – sie ist ein Prozess

„Freedom is earned, not given.”

Im Tango erarbeiten wir sie – Schritt für Schritt.
Nicht durch „mehr Figuren“, sondern durch ein tieferes Verständnis.
Nicht durch das Vermeiden von Fehlern, sondern durch kreatives Reagieren auf sie.

Der schönste Moment beim Tanzen ist der, in dem du nicht weißt, was kommt – und dich trotzdem getragen fühlst. Von der Musik. Von deinem Gegenüber. Von dir selbst.